Dienstag, 25. Januar 2011

Bevor es Nacht wird

Die letzten kurzen Kapitel von Reinaldos Autobiographie las ich ruhig und leicht, wusste ich doch was am Ende kommt. Von AIDS schwer gezeichnet und ohne Geld oder eine Krankenversicherung, war er im New York der 80er Jahre dem Tod geweiht. Er machte sich darüber keine Illusionen. Erst kürzlich war sein engster Freund und Vertrauter, Lázaro, obwohl bei einem Autounfall schwer verletzt, unbehandelt aus dem Krankenhaus vor die Tür gesetzt worden, weil er mittellos und ohne Versicherung war. God's own country.

Die vielen Kapitel davor las ich oft mit einem Klos im Hals. Wie heiter und schamlos begann doch das Buch und Reinaldos Leben! Doch sobald sich zeigte, dass Reinaldo zu jener Art Mensch gehört, die nirgendwo geduldet wird, außer am Rand von was für einer Gesellschaft auch immer, kam er in die Kreise der Hölle. Immer enger zog sich die Schlinge um ihn. Immer seltener wurden im Lauf der Jahrzehnte seine unbeschwerten Augenblicke, am Meer, in den nächtlichen Straßen von Alt-Havanna, mit Freunden im Park. Was zuerst nur leicht zu verschmerzende Ungerechtigkeiten ihm oder anderen Schriftstellern gegenüber waren, uferte später in himmelschreiende Ungerechtigkeit und bösartige Verfolgung aus. Gott scheint ein Freund von Darwin zu sein.

Wer niemals unter einem totalitären Regime leben musste, sollte Reinaldos Lebensgeschichte lesen. Unbarmherzige Verfolgung durch die Staatssicherheit, rigorose Ausgrenzung nonkonformistischer Individuen, schmerzhafter Verrat durch Vertraute, Freund wie Familie, sind ein grausames Schicksal. Der Getriebene weiß warum er leidet, weiß aber auch, dass er sich nicht verleugnen kann, sich nicht verdrehen und verstellen will, nur um zu gefallen. Immer schneller rennt er in eine Sackgasse. Immer geringer wird die Chance durch Aufgabe noch etwas zu retten, weder für sich, noch im Angesicht seiner Verfolger, der Staatssicherheit. Wie eine Beute wird er gehetzt. Gott kennt kein Mitleid.

Eine politische Justiz und unmenschliche Gefängnisse tun schließlich ihr übriges. Der Dissident wird in den Schraubstock der Diktatur eingespannt und für das Brechen vorbereitet. Öffentlicher Widerruf, verräterische und falsche Bezichtigung von Freunden und Kollegen könnte das eigene, wertlos gewordene Leben retten. Manche beugen sich, leisten Abbitte, widerrufen. Andere weigern sich und gehen unter. Und Gott trinkt Tee mit Darwin.

Wer in Kuba seine Pflicht erfüllt, eine dem System gefällige Ausbildung ohne zu murren absolviert, dann anschließend sich dorthin versetzen lässt wo die behördlichen Stellen einen haben wollen, wer folgt ohne Widerstand zu leisten, wer konform ist und nicht selbständig oder gar kritisch denkt, dem gibt der allmächtige Staat das zum Leben Notwendige: eine Wohnung, einen Lohn, Grundnahrungsmittel auf Bezugsschein, Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aber wehe nicht. Gott sieht alles.

Ich kenne meine eigene Natur, ich weiß, dass mich ein ähnliches Schicksal wie Reinaldos erwartet hätte. Ob in der DDR oder in der UdSSR, auch ich wäre ein Dissident gewesen und hätte das gleiche Los geteilt.

Reinaldos Lebensgeschichte ist eine Mahnung an alle Salon-Linken. Sie liebäugeln mit der Befreiung der ausgebeuteten und unterdrückten Massen, wofür sie meinen Respekt und meine Sympathie haben. Aber sie sind blind gegenüber den totalitären, real-existierenden und unmenschlichen Auswüchsen ihrer Ideologie. Die Perversion zeigt sich erst dann, wenn sie aus den Seiten gut gemeinter Bücher in die Welt der Menschen tritt, um dann auf dem gleichen Weg, wie vorher manch andere gut gemeinte Utopie, zu scheitern, verraten durch das Böse in der menschlichen Natur. Der Teufel schläft wohl selten.

Im Lauf der Zeit steigert sich der Druck auf Reinaldo, die Welt um ihn herum wird immer wahnsinniger, sein Leben immer ungewisser. Auf dem Höhepunkt schließlich kann er mit mehr als 100.000 anderen Kubanern die Insel in Richtung USA verlassen. Natürlich wird er auch dort nicht glücklich. Wie auch? "Im Kapitalismus wird einem, wie im Kommunismus, in den Arsch getreten", schreibt er. "Nur, im Kapitalismus darf man schreien", fügt er hinzu.

Er lernt, dass die Freie Welt nicht frei ist. Die zehn Jahre im Exil verbringt er ohne Geld in New York und lebt auch hier am Rand der Gesellschaft. Nur, diese Gesellschaft ist ihm gegenüber nun vorwiegend gleichgültig. Wäre sie es doch nur in Kuba gewesen!

Als Dissident in Kuba war er für seinen mexikanischen Verleger noch von Wert der sich in Pesos umwandeln ließ (wovon Reinaldo nichts ab bekam). Sobald er aber den Nimbus des verfolgten Regimekritikers verloren hat, ist er nur ein Niemand unter vielen. Erneut ist er ein Bauer im Spiel anderer, nur Objekt, wird benutzt, wird ausgenutzt, nach Belieben geopfert, bei Bedarf fallen gelassen.

Schließlich geht die bunte tropische Pflanze Reinaldo im New Yorker Winter Ende 1990 ein, welkt, ermattet, gibt sich geschlagen und nimmt sich am Ende das Leben, da es ihm nur noch körperliche Qual bieten kann.

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